True Crime boomt, ob nun als Podcast, Film, Serie, ob fiktional oder dokumentarisch erzählt: Was als Füllmaterial bei Netflix und Co. seinen Anfang nahm, treibt inzwischen immer kreativere Blüten. Anthologie-Serien wie „Monster“ auf Netflix sorgen für Streaming-Rekorde; eine Comedy-Serie, die sich auf einer Meta-Ebene mit dem Phänomen befasst, das es gleichzeitig selbst beackert („Only Murders in the Building“) zählt zu den beliebtesten Neuproduktionen der letzten Jahre.
Nun versucht sich auch RTL+ im Zuge seiner aktuellen Programm-Offensive mit einer innovativen Eigenproduktion aus Deutschland. Wobei das so nicht ganz stimmt: Zeit Verbrechen wurde ursprünglich für Paramount+ gedreht. Nachdem die Serie mit Auszeichnungen überhäuft wurde, sicherte sich der Sender aus Köln die Rechte, seit dem 6. November ist die vierteilige Miniserie für AbonnentInnen verfügbar. Sie orientiert sich am gleichnamigen und erfolgreichen „Zeit“-Podcast, vier der dort vorgestellten Fälle wurden von jeweils anderen RegisseurInnen verfilmt, als eigenständige, jeweils rund einstündige Mittellang-Filme. Als inhaltliche Ergänzung bietet RTL+ die Dokuserie Zeit Verbrechen: Spurensuche an, die die jeweiligen realen Hintergründe der vier Fälle beleuchtet.
Zeit Verbrechen ist ein Versuch, das „guilty pleasure“ True Crime auf Arthouse-Niveau zu heben: Dafür sorgt die Auswahl der FilmemacherInnen, die die Folgen inszenierten. Mit Mariko Minoguchi, Helene Hegemann, Jan Bonny und Faraz Shariat konnten bekannte Namen gewonnen werden, die in den letzten Jahren in der deutschsprachigen Filmwelt auf sich aufmerksam machten.
Der Zugang ist kreativ, experimentell, spannend — aber in seinem Endresultat leider auch durchwachsen. Der Vorteil ist, dass für unterschiedliche Geschmäcker etwas dabei ist, thematisch, erzählerisch, stilistisch. Insgesamt wirkt das Konzept dann aber doch etwas unstimmig und richtungslos. Denn vermutlich hätten die vier Episoden als Langfilme besser funktioniert.
Folge 1: „Dezember“ von Mariko Minoguchi
Folge eins erzählt von Behördenversagen und einem Tod, der verhinderbar gewesen wäre: Der 18-jährige Tim (Samuel Benito) macht sich nach einer durchzechten Nacht auf den Weg nach Hause, das er nicht findet. Erst fällt er mitten auf der Straße in Ohnmacht, die Rettung will ihn ins Krankenhaus bringen, er möchte nicht, die Polizei will ihn nicht nach Hause bringen („Dafür sind wir nicht zuständig!“) und schickt ihn torkelnd wieder in die Dunkelheit. Dann klingelt er bei einem Ehepaar, dessen Haus er für das seiner Eltern hält, die Polizei wird erneut gerufen, setzt Tim wieder auf die Straße. Bis ihn ein heranrasendes Auto erwischt.
Dezember ist eine fast dokumentarische Rekonstruktion eines realen Falles, solide erzählt, aber auch etwas spannungsarm, da von vornherein klar ist, was passiert und wie es dazu kam. Trotzdem ist die Folge als Reflexion über Ignoranz, „Wurschtigkeit“ und überforderte Behörden interessant.
Bewertung: 3,5/5
Folge 2: „Deine Brüder“ von Helene Hegemann
Deine Brüder erzählt — auf äußerst konfuse und chaotische Art und Weise — von einem Fall von Selbstjustiz, dessen Hintergründe in einer Gerichtsverhandlung ermittelt werden sollen. Auf der Anklagebank sitzen fünf jugendliche, die ihren Freund Cem brutal ermordet haben. Sie kannten sich seit Kindheit, waren eine eingeschworene Gang, doch Cems Verhalten wurde aufgrund seiner schizophrenen Erkrankung immer erratischer, wirrer und auch gefährlicher.
Die schwächste der vier Folgen scheitert daran, nicht zu wissen, was sie eigentlich sein und darstellen will: Der Film springt hin und her zwischen Aufnahmen aus dem Gericht, Rückblenden von der Eskalation und Rückblenden in die Kindheit Cems. In einer Stunde möchte Deine Brüder Gerichtsthriller, psychologische Drama, Milieustudie und „Problemfilm“ sein. Das scheitert.
Bewertung: 1,5/5 Punkten
Folge 3: „Der Panther“ von Jan Bonny
Folge drei ist das eindeutige Highlight von Zeit Verbrechen, und das liegt nicht nur an einer verrückten Overacting-Performance von Lars Eidinger, der den Gangster, Spieler und V-Mann Johnny spielt. Johnny hat eine toxische Beziehung zu seiner Tochter Stella, die bei ihm lebt und ständig die Drogen konsumiert, die Johnny für seine Auftraggeber verticken soll. Er steht ständig unter Strom, hetzt von Treffen mit seinen Gang-Freunden in die Spielhalle, weiter zu einer Prostituierten, nach Hause zu Stella, weiter zu Meetings mit seinen Polizeikontakten, die ihn lange Zeit bereitwillig mit Geld und Sachgütern ausstatten.
Der Panther ist das eindrückliche Porträt eines Getriebenen, einer gescheiterten Existenz, die trotzdem hinter jeden Ecke die große Chance wittert. Johnny hat ein Ablaufdatum, das weiß er auch selbst, und trotzdem will er seinem Schicksal davonlaufen.
Inszeniert wurde die Folge von Jan Bonny, der 2018 mit Wintermärchen einen der provokantesten und vielleicht auch besten deutschen Filme der letzten Jahre vorlegte und 2022 mit King of Stonks auch bei Netflix anheuerte. In Der Panther bleibt er seinem einzigartigen, rauen, realistischen Stil treu. So ist es fast schade, dass der Film „nur“ als Episode dieser Miniserie sein Auslangen finden muss: Der Panther würde auch als zweistündiger Spielfilm hervorragend funktionieren.
Bewertung: 4/5 Punkten
Folge 4: „Love by Proxy“ von Faraz Shariat
Der Titel Love by Proxy verweist auf die afrikanische „Romance Scam-Industrie“ und den Fall eines deutschen Rentners, der online in die Fänge eines afrikanischen Betrügers geriet, der sich als Frau ausgab und Geld von ihm verlangte. Regisseur Faraz Shariat inszeniert die Folge als internationalen Thriller mit einem Täter auf der einen Seite, der sich im Recht sieht und seinen Betrug als „Rache“ an weißer Ausbeutung der Vergangenheit sieht, der ihm ein privilegiertes Leben in der Gegenwart ermöglicht. Und einem Opfer auf der anderen Seite, der sich selbst nicht als Opfer sieht und gar nicht weiß, dass er Opfer ist.
Love by Proxy ist zum einen ein interessanter Einblick in die Lebensrealität junger Männer in afrikanischen Großstädten, zum anderen auch ein Porträt von Einsamkeit im Alter mitten in Europa, die die Ausbeutung über Romance Scams überhaupt erst möglich macht, denn jede Transaktion kann nur mit potenziellen „Kunden“ und einem entsprechenden Bedürfnis stattfinden. Auf einer Meta-Ebene erzählt die Folge auch von den (kriminellen) Möglichkeiten einer globalisierten und global vernetzten Welt.
Shariat führt das Publikum zu Beginn ebenso in die Irre wie der Scammer sein Opfer, indem er die erfundene Geschichte abfilmt und als Realität darstellt. Die Folge ist technisch gut gemacht, leidet aber ebenso wie andere Episoden daran, dass sie in der Länge für eine Serienepisode zu lang und dicht ist und für einen Spielfilm zu kurz.
Bewertung: 3/5 Punkten